Sonntag, 7. März 2021

Der leise und gelinde Zweifel

EXTEMPORA

Am Ende meiner Realschulzeit, vor vielen Jahren, wurde ich von meinem Deutschlehrer in der 9. Klasse ausgesucht, in der Abschlussfeier für das 10. Schuljahr das Gedicht von Bertold Brecht vorzutragen "Der Zweifler". An diese Episode muß ich mich immer erinnern, wenn ich in jeder Woche mit großem Vergnügen diesen Podcast höre 


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Bertold Brecht

Der Zweifler

    Immer wenn uns
   Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
   Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
   Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiele und
   Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
   So sehr zweifelte.

   Ich, sagte er uns
   Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
   Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
   Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
   Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
   Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
   Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
   Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
   Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
   Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos
   Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
   Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
   Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:
   Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
   Ist es auch angeknüpft an vorhandenes? Sind die Sätze, die
   Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
   Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
   Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
  Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man? 

   Nachdenklich betrachteten wir mit Neugier den zweifelnden
   Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
   Begannen von vorne.