Donnerstag, 18. Juni 2020

Aus meinem Bücherschrank: Am Freitag schlief der Rabbi lang


Sie fühlte mehr als sie sah, wie die Hand sich näherte. Sie spürte sie an ihrem Hals und war im Begriff, sich ihm lächelnd zuzuwenden, als die Hand ihre silberne Halskette packte. Sie wollte protestieren, ihm sagen, daß er die Kette zu eng zussammenziehe, aber da war es schon zu spät. Die Hand riß die Kette mit einem Ruck ganz eng zusammen. Sie konnte sich nicht wehren. Sie konnte nicht einmal schreien. Sie schwamm in rotem Nebel. Und dann wurde alles schwarz.

Die Tote ist Anfang zwanzig, blond, hübsch. Sie war Hausangestellte, und man weiß wenig von ihr. Nur eines stellt sich heraus: Sie war schwanger. Aber das hilft Polizeichef Lanigan auch nicht weiter. Es gibt keinen Verdächtigen. Wer sollte in der muffigen Ehrbarkeit der Neu England-Kleinstadt ein solches Verbrechen begehen? Ein Mann allerdings  müßte eigentlich etwas bemerkt haben: der Rabbiner, unter dessen Fenster der Mord geschah. ……


Harry Kemelman, Am Freitag schlief der Rabbi lang, 
Rowohlt Taschenbuch 2090

 










Die Serie der 'Rabbi Krimis' gehört unzweifelhaft zu den Favoriten in meiner kleinen Hausbibliothek. Auch wenn jemand nicht eigentlich ein Fan von Kriminalromanen ist, haben diese Fälle um den jungen Rabbi David Small ihren ganz eigenen Reiz.

Sie saßen im Betsal und warteten. Neun Männer, die auf den zehnten warteten, um den Morgengottesdienst beginnen zu können. Jacob Wassermann, der bejahrte Gemeindevorsteher hatte die Gebetsriemen bereits befestigt. Der junge Rabbi David Small war gerade eingetroffen, zog den linken Arm aus der Jacke und rollte den Hemdsärmel  bis zur Achsel hoch. Er legte die kleine schwarze Kapsel mit den Thora-Stellen auf den linken Oberarm gegenüber dem Herzen, wickelte den einen Gebetsriemen siebenmal um den Unterarm, dreimal um den Handteller - das bedeutet den ersten Buchstaben vom Namen des Herrn - und schließlich um den Mittelfinger, als Symbol für den Bund mit Gott. Nun befestigte er den zweiten Gebetsriemen mit der Kapsel an der Stirn; zusammen mit dem ersten gilt das als buchstäbliche Erfüllung des biblischen Gebotes: 'Und du sollst die Worte Gottes binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinem Augen sein.'

Schon sofort zu Beginn des ersten Kapitels erfährt man, wie Mitglieder einer jüdischen Gemeinde sich zum Morgengottesdienst versammeln. Man erfährt weiterhin, dass die Versammlung aus neun Männern besteht, die auf einen zehnten warten. Zehn, warum zehn?

Zehn, weil für den jüdischen Gemeindegottesdienst mindestens zehn im religiösen Sinne erwachsene jüdische Personen nötig sind. Dieses Quorum heißt „Minjan“. Im orthodoxen Judentum zählen nur Männer zum Minjan; im nichtorthodoxen Judentum auch Frauen.
In der Mischna kann man lesen ((Megilla 4,3)), dass man einen Minjan (מנין) benötigt, also mindestens zehn erwachsene Juden, um aus der Torah lesen oder das Schmoneh Essre öffentlich sprechen zu können.
Aus <https://www.talmud.de/tlmd/minjan/>

Auch wird erklärt, wie jeder der Beter sich persönlich auf den Gottesdienst vorbereiten soll, indem er sich die vorgeschriebenen Gebetsriemen anlegt, an denen kleine Kapseln befestigt sind, die Textstellen aus der Tora enthalten, zum Beispiel das 'Schema Israel', ein jüdisches Glaubensbekenntnis: 'Höre Israel, der Herr, dein Gott ist ein einziger Gott' (nach Dtn 6,4–9) und es wird außerdem die Erklärung für diese Vorschrift mitgeteilt.

 (c) des Bildes hjt
So hat man hier nicht nur einen unterhaltsamen, sprich spannenden Krimi vor sich, sondern erfährt so ganz nebenbei auch noch viel Interessantes über das Leben unserer jüdischen Mitmenschen, ein Wissen, das sicherlich hilfreicher sein kann antisemitischen Einstellungen in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken als staatlich verordnete political correctness!

Harry Kemelman, der Autor,
geboren 1908 in Boston, starb im Januar 1997. Er hatte bereits einige Kurzgeschichten veröffentlicht, als er diesen seinen ersten Kriminalroman schrieb, für den er den Edgar Allan Poe Award erhielt.

In der Rabbi Reihe sind weiterhin erschienen:

Am Samstag aß der Rabbi nichts (Rowohlt tb  2125)
Am Sonntag blieb der Rabbi weg (Rowohlt tb  2291)
Am Montag flog der Rabbi ab (Rowohlt tb  2304)
Am Dienstag sah der Rabbi rot (Rowohlt tb  2346)
Am Mittwoch wird der Rabbi naß (Rowohlt tb  2430)
Der Rabbi schoß am Donnerstag (Rowohlt tb  2500)
Eines Tages geht der Rabbi (Rowohlt tb  2720)
Ein Kreuz für den Rabbi (Rowohlt tb  2860)
Ein neuer Job für den Rabbi (Rowohlt tb  3120)
Als der Rabbi die Stadt verließ (Rowohlt tb  3253)